Zum Advent (Offenbarung 3,7-13)
Und dem Engel der Gemeinde in Philadelphia schreibe: Das sagt der Heilige, der Wahrhaftige, der da hat den Schlüssel Davids, der auftut, und niemand schließt zu, und der zuschließt, und niemand tut auf: Ich kenne deine Werke. Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan, die niemand zuschließen kann; denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet. Siehe, ich werde einige schicken aus der Versammlung des Satans, die sagen, sie seien Juden, und sind’s nicht, sondern lügen. Siehe, ich will sie dazu bringen, dass sie kommen sollen und zu deinen Füßen niederfallen und erkennen, dass ich dich geliebt habe. Weil du mein Wort von der Geduld bewahrt hast, will auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die kommen wird über den ganzen Weltkreis, zu versuchen, die auf Erden wohnen. Ich komme bald; halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme!
Wer überwindet, den will ich machen zum Pfeiler in dem Tempel meines Gottes, und er soll nicht mehr hinausgehen, und ich will auf ihn schreiben den Namen meines Gottes und den Namen der Stadt meines Gottes, des neuen Jerusalem, das vom Himmel herniederkommt von meinem Gott, und meinen Namen, den neuen. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!
Die kleine Kraft
Vor Jahren schon, da lebte ein kleiner Junge. Gerade mal zehn Jahre alt. Nicht besonders stark, eher hager, dafür aber groß. Manche würden ihn wohl schlaksig nennen. Dieser Junge kam jeden morgen und jeden Nachmittag auf seinem Weg von der Schule an einem hohen Bretterzaun vorbei. Er konnte nicht über den Zaun hinüber schauen, auch nicht daran vorbei. Sogar ein Astloch suchte er vergebens. Es gab zwar eine Tür, aber die war verschlossen. Er hat viele Menschen in seinem Umfeld gefragt, was es mit dem Grundstück hinter dem Zaun wohl auf sich hat. Aber keiner seiner Freunde konnte ihm so ganz genau sagen, was dahinter zu finden sei. Nichteinmal auf die Frage, wem das Grundstück jenseits des Zaunes wohl gehöre, hat er eine befriedigende Antwort erhalten. Also machte er sich so seine Gedanken, was sich wohl hinter diesem Zaun verbergen möge. Wenn die Sonne schien und es warm war, stellte er sich dort einen See vor mit kristallklarem Wasser. Gespeist aus einer Quelle, die durch einen Stein bricht. Im Winter stellte er sich vor, dass dort Schneemänner zu finden wären. Eine ganze Armada. Eng an eng, die sich gegenseitig schützen und Gemeinschaft schenken. Die einen kleinen Jungen, wie ihn sicherlich von dem schneidend kalten Wind abschirmen konnten. Kam er im Frühling den Weg am Zaun entlang, wuchs in seiner Phantasie ein Meer von Blumen auf der anderen Seite, zwischen denen Bienen hin und her summten, während Schmetterlinge den süßen Nektar aus den Blütenkelchen schlürften. Und im Herbst, da gab es natürlich Igel und die buntesten Blätterhaufen jenseits des Zaunes. Eines Herbsttages, da wollte es der Zufall, das er einen Apfel aus seiner Schultasche just in dem Moment aufgegessen hatte, als er am Zaun vorbei kam. Er musste daran denken, wie ihm seine Mutter den Apfel am Morgen mit viel Liebe in den Rucksack gelegt hat. Natürlich mit den besten Hintergedanken, dass er gesund bleibt, ihr Junge, und „groß und stark wird.“ Er musste grinsen, als er an die fürsorgliche Art seiner Mutter dachte. Er hatte den Apfel brav aufgegessen und jetzt stand er mit dem Strunk in der Hand vor dem hohen Bretterzaun. Er holte weit aus und warf ihn mit all der kleinen Kraft, die in seinen dünnen Ärmchen war über den Zaun. Ganz knapp fiel der Apfelstrunk hinter dem Zaun auf den Boden. „Für euch, ihr Igel!“ sagte er laut und ging seinen Weg weiter nach Hause.
Der Junge wuchs heran. Gedanken an die Schulaufgaben und Probleme bei der Versetzung verdrängten seine Gedanken an den mysteriösen Garten jenseits des Zaunes. Als er schließlich Hand in Hand mit seiner ersten großen Liebe daran vorbei trottete hatte er Augen nur noch für sie und vergaß es schließlich vollkommen, zu fragen und sich zu wundern.
Jahre später, er war schon ein erwachsener Mann, da kam er erneut an dem Zaun vorbei. Er hatte den Kopf voller Gedanken, aber seine Füße hatten ihn irgendwie hierhin geführt. Er brauchte einige Augenblicke, bis er erkannte, wo er stand. Er sah zu der Tür hin. Ruckelte mit der Hand an der Klinke. Erst vorsichtig, dann mit all der Kraft, die er aufbringen konnte. Die Muskeln unter dem Anzug spannten sich, doch die Tür blieb hartnäckig und bewegte sich keinen Millimeter. „Ganz wie früher.“ Dachte er und musste grinsen. Es war das gleiche Grinsen, dass auch früher schon sein Gesicht geziert hatte. Nur mit etwas mehr Falten um die Augen und leicht versteckt unter dem Drei-Tage-Bart. Doch dann bemerkte er etwas Merkwürdiges. Es dauerte einige Momente, doch dann realisierte er, dass die Sonne schien, aber er im Schatten stand. Sein Blick wanderte nach oben und dort entdeckte er die Äste eines Apfelbaumes, die ganz ungeniert über den Zaun auf den Gehweg hinunter hingen. „Na, das wollen wir doch mal sehen!“ murmelte er vor sich hin, zog sein Jackett aus und krempelte die Ärmel seines weißen Hemdes hoch. Er nahm Anlauf, sprang an dem Zaun hoch, drückte sich ab und… landete unsanft mit dem Hintern auf dem Gehweg. „Na warte,“ drohte er, wem auch immer, und rieb sich das schmerzende Hinterteil. Erneut nahm er Anlauf, drückte sich vom Zaun ab und bekam einen eine Hand voll Zweige des Baumes zu fassen. Der Ast, an dem dieser hing, zitterte und bog sich gefährlich nach unten, doch er hielt. Mit den Füßen am Zaun zog er sich Minischritt für Minischritt über den Ast langsam nach oben, bis er endlich hinüberblicken konnte. Was er dann erblickte, ließ ihn stocken. Er zog sich ganz über den Zaun hinüber und landete auf der anderen Seite. Es sah so überhaupt nicht aus, wie das, was er es sich als Kind ausgemalt hatte. Es war völlig unspektakulär. Keine Schneemänner, keine Seen mit kristallklarem Wasser, keine Blumenwiese. Höchstens mit den Igeln könnte er Recht gehabt haben, die würden sich in dieser Wildnis sicherlich wohl fühlen. Er drehte sich zum Baum, tätschelte seine Rinde, um sich zu bedanken. Da fiel sein Blick auf eine Schnitzerei in der Borke. Mit grober Klinge hatte dort jemand seinen Namen eingeritzt. Daneben der seiner Mutter und der seines verstorbenen Vaters. Darum ein Herz. Es musste schon alt sein, das sah er sofort. Tränen stiegen ihm in die Augen. Schnell ging er zu der Tür im Zaun. Sie war mit einem einfachen Balken von innen verschlossen. Er legte den Balken zur Seite, riss, das Tor auf und rannte los, zu seiner Mutter, um ihr von seiner Entdeckung zu erzählen. Sie wohnte noch immer im Haus seiner Kindheit. Kaum hatte sie die Tür geöffnet sprudelte es nur so aus ihm heraus. Er erzählte ihr von dem Grundstück, an dem er als Kind so oft vorbeigelaufen ist, von dem Apfelstrunk, den er damals hinüber geworfen hat und aus dem ein Baum geworden ist und wie der Apfelbaum ihm geholfen hat, dieses Geheimnis seiner Kindheit zu lüften. Dass das Tor schon immer nur von innen verriegelt war, dann stockte er: „Mama, wie kommen unsere Namen auf den Baum?“
„Weißt du,“ setzte seine Mutter an. „Papa hat das Grundstück mit dem Zaun gekauft, als du geboren bist. Er wollte, dass du einen Platz hast, auf dem du dich einmal entfalten kannst. Einen guten Start, wenn du so willst. Aber er wollte, dass du es erst bekommst, wenn du es geschafft hast, hinüber zu kommen. Dass du es schaffst, daran hatte er nie einen Zweifel. Aber er wollte, dass es auch die anderen sehen, zu was du in der Lage bist. Weißt du, er hat dich sehr geliebt und war unheimlich stolz auf dich und er wusste, dass du die Ausdauer und Geduld haben wirst es immer wieder zu versuchen, bis du es einmal hinbekommst. Als er dann krank wurde war er häufig dort. Es muss an einem dieser Tage gewesen sein, als er mit seinem Taschenmesser das Herz dort hineingeritzt hat.“ „Mama? Ohne deine Liebe hätte ich das niemals geschafft… meine kleine Kraft hätte nicht ausgereicht.“ „Wie meinst du das?“ fragte sie verwundert. „Mama, der Apfel, aus dem der Baum geworden ist, der mir über den Zaun half, den hast du mir eingepackt, weil du wolltest, dass ich groß und stark werde; weil du mich geliebt hast…“ „Weil ich dich noch immer liebe!“ verbesserte sie ihn. „Und ich auch in Zukunft nicht vorhabe damit aufzuhören!.“
Amen