Ich war kein besonders mutiges Kind. Ich wusste schon ziemlich genau, dass Karussells nichts für mich waren. Einmal war ich mit meinen Geschwistern, meinen Eltern und meinen Großeltern auf dem Weihnachtsmarkt. Ich weiß es noch genau, wir standen vor der Raupe. Ihr wisst schon, dieses Fahrgeschäft, dass sich immer im Kreis dreht, dabei leicht hoch und runter geht. Aus der Sicht heutiger Jugend sicherlich nichts aufregendes mehr. Es roch nach gebrannten Mandeln, Zuckerwatte und Kettenöl. Ich werde diese Mischung wohl lange im Gedächtnis behalten. Jedenfalls habe ich mich überreden lassen. Vor allem, von meinen Geschwistern, die es liebten, in diesem Höllending immer schneller und sogar rückwärts (!) zu fahren. Zu dritt saßen wir nebeneinander. Ganz rechts mein großer Bruder, in der Mitte mein kleiner Bruder und an der Außenseite saß ich. Langsam nahm unser Zug fahrt auf. Schneller und schneller drehten wir uns und dabei ging es bei jeder Umdrehung einmal hoch und einmal runter. Nach draußen konnte ich gar nicht mehr schauen, die Umgebung wischte zu schnell an mir vorbei. Immer und immer wieder. Mir wurde flau im Magen. Die Drehkräfte drückten mich an die Außenwand der Gondel und meine Geschwister gegen mich. Mit aller Kraft hielt ich mich an der Stange vor mir fest. Stierte darauf, dass ich nur noch aus den Augenwinkeln wahrnehmen musste, wie schnell alles draußen vorbeirauscht. Innerlich betete ich: Bitte, bitte, lass das bald vorbei sein. Immer wenn ich dachte, ich kann nicht mehr, gleich muss ich mich übergeben, kam eine neue Runde, bis nach einer gefühlten Ewigkeit die Raupe ganz gemächlich langsamer wurde. Die Sicherheitsverschlüsse klappten auf. Auf wackeligen Beinen stieg ich aus. Meine Mutter kam auf mich zu gerannt und nahm mich auf den Arm. Die Farbe in meinem Gesicht muss der Fahrtwind wohl komplett herausgedrückt haben. Um mich herum drehte sich noch eine Weile alles weiter, bis meine Sinne sich auf die neue Situation eingestellt haben. Plötzlich war ich dankbar. Einfach dankbar, dass es aufgehört hat und dass ich noch lebe. Schlecht war mir immer noch, aber es wurde besser. Ich war so froh, dass ich wieder sicher war. Ich vergrub mein Gesicht in der Schulter meiner Mutter und fing an loszuheulen. Das war sehr befreiend kann ich euch wohl sagen.
Als ich später in meinem Leben in der Schule war, da wurde es mir manchmal zu viel. Zu viele Hausaufgaben. Zu viele Idioten in der Schule. Zu viel Trubel zuhause. Dann hab ich mich dick angezogen, bin hinten aus dem grünen Tor mit dem Schiebeverschluss hinaus. Hab keinem groß gesagt, wo ich hin bin, sondern am Feld entlang, über den kaputten Stacheldrahtzaun, quer über die alte Schafswiese, in den Wald, mit einem beherzten Sprung über den kleinen Bach und immer weiter in den Wald hinein. Fast am Ende des Waldes, wo keine Spaziergänger mit ihren Hunden lang gingen, wo kein Jäger seinen Hochsitz stehen hatte und wo auch keine Reiterinnen mit ihren Pferden vorbei kamen, da gab es an einem Abhang einen kleinen Erdhaufen. Gerade so groß, dass ich mich gut darauf setzen konnte. Wenn ich dort saß schaute ich an den jungen und alten Buchen entlang auf die Jölle. So hieß der Bach in dem wir als Kinder häufig Staudämme gebaut haben. Es plätscherte leise. In die Nase stieg der Geruch von Moos und Waldboden und in der Ferne konnte man den Himmel über den Feldern erkennen. Ein durch und durch friedlicher und stiller Ort. Ich saß dann dort und lauschte in die vermeintliche Stille des Waldes hinein, beobachtete, ließ meine Gedanken schweifen. Manchmal kam in 10-15 Metern ein Reh vorbei. An diesem Ort wusste ich, hier kann mir nichts passieren. Hier kann ich meine Gedanken wälzen, mir klar werden, was ich fühle, hier kann ich einfach sein. Hier muss ich keine Konsequenzen oder dummen Sprüche ertragen, wenn ich traurig bin oder verliebt oder zweifele. Erstaunlicherweise war das auch der Ort, an dem ich manchmal mit Gott geredet habe, obwohl ich zu der Zeit eigentlich nicht viel mit ihm zu schaffen hatte. Ein sicherer Ort. Mein Safe Space. Wenn ich dann irgendwann manchmal erst nach einer Stunde diesen Ort verlassen habe, war ich immer wieder ein anderer Mensch. Manchmal hatte ich danach eine Entscheidung getroffen, manchmal ist mir etwas klar geworden. Immer ging ich verändert wieder nach Hause durch den Wald, über den Bach, quer durch die Schafswiese am Feld entlang, durch das grüne Gittertor mit dem Schiebeverschluss.
Bis heute gehe ich manchmal in Gedanken an diesen Ort meiner Jugend, wenn es draußen grad chaotisch ist, wenn ich Klärung brauche oder Ruhe. Und mit Kindern, das wisst ihr genau so gut, wie ich, braucht man ab und an mal wirklich seine Ruhe.
Heute glaube ich, ich bin da nicht alleine gewesen an diesen Orten. In diesem Gefühl von Geborgenheit, diesem Gefühl von Sicherheit war die Ahnung von etwas Größerem Verborgen.
In der letzten Woche habe ich meine Kirchenvorsteher und noch ein paar andere Menschen gefragt, was für sie sichere Orte sind. Und die Antworten werden euch überraschen. Sie sind so unterschiedlich, wie die Persönlichkeiten, dieses liebenswerten, engagierten und genialen Haufens von Menschen:
Die eigene Tochter, ein Safe Space. Das Gefühl von Vertrautheit mitten in der Fremde. Die feste Überzeugung: „Hier kann uns keiner was!“ Das Läuten der Glocken, am Samstagabend, wie es über die Dächer Schledehausens bis ins an die äußeren Ränder des Kirchspiels klingt und von der Tradition erzählt: Leg den Laubpuster zur Seite, du hast genug geschafft, jetzt beginnt der Sonntag. Dein Herz und deine Seele sollen Frieden haben.
Für jemand anderen ist es der Platz an dem ihr gerade sitzt. Mit den dicken Mauern, die Kriege und Frieden gesehen haben, Krisen und Taufen, mit einem Fundament, das bisher alles überstanden hat. Mit einem Dach, das Schutz vor der Witterung bietet und einem Raum mit der Atmosphäre, die nur Steine haben können, die fast 800 Jahre durchbetet worden sind.
Das Zuhause mit den lieben Menschen, kann so ein sicherer Ort sein, zu denen man immer wieder heimkehren mag nach getaner Arbeit. Mit einer Familie, die einen hält.
Ich glaube, all das sind Orte, an denen wir Gott spüren können. An denen wir etwas von dem spüren können, was der Psalmbeter mit den Worten beschreibt: „Ja, Gott ist meine Rettung. Ich bin voll Vertrauen und fürchte mich nicht. Denn Gott, der Herr, ist meine Zuflucht, von ihm singe ich in meinem Lied. Er hat mir die Rettung gebracht.“ Sicherheit in Unsicheren Zeiten.
Ihr liebe Taufeltern und Paten könnt solche Safespaces für eure Kinder sein, wenn draußen die Welt wütet und unterzugehen droht. An euch können eure Kinder etwas von der Liebe Gottes, seinem Schutz, aber auch von seiner Macht lernen. Aber hey, keinen Druck, ihr müsst ihnen Gott nicht erklären. Ihr seid auch nicht dafür verantwortlich, ob sie einmal gläubige Christen werden. Sicher, ihr tut das, was in eurer Macht steht, sie mit eurer Liebe zu begleiten, aber selbst wenn ihr mal das Gefühl habt, darin zu versagen: Ich bin mir ganz sicher, dass Gott sich ihnen in ihrem Leben zeigen wird. Dass es Orte und Begegnungen in ihrem Leben geben wird, aus denen sie völlig verändert und gestärkt hervorgehen werden, weil sie dort Sicherheit und Zuflucht erfahren haben. Und ich glaube, so einfach funktioniert Glaube und frohe Botschaft. Wir leben vor uns hin und immer mal wieder erleben wir Situationen, die uns eine Ahnung von Gott geben, weil sie uns stärken, uns verändern. Sie geben eine Ahnung davon, wie es einmal sein wird, wenn sein Reich kommt. Und dann kommt die Kirche ins Spiel. Dafür bin ich als Pastor einmal angetreten, dass Menschen in dieser Kirche solche sicheren Räume erleben. Dass sie spüren: bei Gott bin ich willkommen und in dieser Kirche auch. Besonders die, die nicht das Glück haben, zur Mehrheitsgesellschaft zu gehören, die keinen Rückhalt in der Familie zu haben, die täglich angefeindet, gemobbt und fertiggemacht werden. Besonders ihr sollt spüren: Hier kann euer Safespace sein. Ein sicherer Ort, mit der Wärme einer Krippe, auch wenn sie in einem zugigen Stall steht. Oder wie es die katholische Theologin Lisa Quarch ausdrückt: „Faith Spaces must be safe spaces.“ Glaubensorte müssen sichere Orte sein und ich möchte ergänzen: SafeSpaces are faith spaces: Sichere Orte sind Orte des Glaubens. Hier bekommt man eine Ahnung von Gott, auch dann wenn es nach Mandeln, Zuckerwatte und Kettenöl riecht. Amen