Weil ihr nun Kinder seid - Predigt zum Heiligen Abend

Sun, 24 Dec 2023 18:48:21 +0000 von Tobias Patzwald

Christvesper 2023
Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, auf dass er die, die unter dem Gesetz waren, loskaufte, damit wir die Kindschaft empfingen. Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott. (Galater 4,4-7)
 
„Weil ihr nun Kinder seid…“
Ich erinnere mich an meine Kindergartenzeit. Neben dem Hauptraum gab es in unserem Kindergarten einen kleinen Nebenraum. Es muss kurz vor Weihnachten gewesen sein. Da standen die Kisten mit den Holzbauklötzen. Ja, es waren wirklich Kisten! Mehrzahl. Und einmal, daran erinnere ich mich noch genau, haben wir sie alle verbaut. Den ganzen Vormittag haben wir daran gesessen. Ich und mein Kindergartenfreund Sascha. Mit kindlichem Ernst haben wir Stein auf Stein gesetzt. Schließlich langten wir in die Klötzchenkiste und holten den letzten Stein heraus. Hochkonzentriert. Bloß nicht wackeln, bloß nichts umwerfen. Ich erinnere mich an Stille. Vermutlich war es aber laut um uns herum, wie es in jedem Kindergarten laut ist... Wir legten den Stein an seinen Ort, ganz oben. Vorsichtig loslassen und zwei Schritte mit erhobenen Händen rückwärts schleichen. Nun standen wir mit ausreichend Sicherheitsabstand vor unserer Konstruktion und bewunderten sie mit dem gebührenden Respekt. Das Kollosseum schien uns riesig. Für die Erzieherinnen war es vermutlich nicht mehr als Hüfthoch. Es blieb noch etwa fünf Minuten stehen und nachdem es von allen ausreichend bewundert worden ist, nickten Sascha und ich uns zu. Vor Freude schreiend schmissen wir alles um, bis kein Stein mehr auf dem anderen Stand. Jetzt waren wir Abrissbagger.   
Manchmal wünsche ich mir heute diese Leichtigkeit zurück, mit der wir damals selbstgebaute Gedankenkonstrukte einfach wieder einreißen konnten. Wir wussten nicht, dass manche Dinge „einfach so sind.“ und das war gut so.
 
Ich erinnere mich an die großen Erdhaufen hinter dem Rohbau meiner Eltern. Er war mit Kamille und Gras bewachsen. Während um uns herum Baustelle war, kletterten wir um die Wette. Rauf und runter, immer wieder. Wir nahmen Schippen in die Hand und gruben Löcher in den Berg. 
Wie die Gummibärenbande wollten wir ihn aushöhlen, mit Tunneln und Höhlen, um darin unser Versteck zu errichten. Immer wieder sprangen wir hinein, um zu prüfen, wie tief wir schon gekommen sind, kletterten wieder hinaus und gruben weiter. Hüfthohe Löcher waren das Beste, was wir hinbekommen haben. Aber trotzdem waren wir stolz wie Bolle und unsere Eltern konnten in Ruhe am Haus weiterarbeiten. 
Manchmal wünsche ich mir diese Ausdauer zurück, diese Kindliche Unbekümmertheit. Keiner hatte uns gesagt, dass wir uns ein unmögliches Unterfangen vorgenommen hatten. Dass man Ahnung von Tiefbau und Statik haben müsste, damit nicht alles über uns einstürzte. Zum Glück wussten wir das alles nicht, sonst hätten wir einfach gar nicht erst angefangen. 
 
Ich erinnere mich, wie wir in den Wald gingen, wie so oft. Meine Brüder und ich auf dem Weg zum Bach unserer Kindheit. Wie wir Stöcke hineinwarfen und ihnen hinterherschauten, wie wir Stichlinge suchten und unter der unterspülten Eichenwurzel fündig wurden. Ich erinnere mich, wie wir dann am Bach entlang weitergelaufen sind, bis wir eine Stelle fanden, die uns passend schien. Platschend schoss das Wasser in die Höhe, als wir Schaufel um Schaufel Erde hineinschippten. Bis das Wasser keine Chance mehr hatte, uns und unsere Arbeit zu ignorieren, weil es nicht mehr vorbeilaufen konnte. Es staute sich und damit begann für uns der Wettlauf gegen die Zeit. Wer wäre wohl schneller, das Wasser über den Damm oder wir mit neuer Erde? Hüfthoch haben wir im kalten Wasser gestanden. Wir haben wirklich alles gegeben. Uns sogar am Ende mit ausgebreiteten Armen vor unser matschiges Machwerk geschmissen, damit es nicht bricht. Von oben bis unten waren wir eingeschlämmt, wie die Wildsäue. So sehr, dass wir mit dem Schlauch im Garten ersteinmal grob abgewaschen werden mussten, bevor wir rein in die warme Stube konnten. Gewonnen hat am Ende immer der Bach mit seinem stetigen, nie enden wollenden Fluß. Aber wir haben in diesem Moment gelebt. Wirklich gelebt. Die Sinnlosigkeit unseres Unterfangens war uns nicht bewusst, und somit nicht existent. Wir haben Glück erlebt und Stolz auf die eigene Stärke, Hoffnung und Verzweiflung. Die ganze Zeit aber war da Freude über das Spiel. Darüber etwas zu erleben mit Menschen, die mir lieb waren und sind. 
Heute wünsche ich mir zurück, wieder so im Moment sein zu können, wie ein Kind. Zu genießen, was ist und nicht, was sein könnte. Die schönen Momente mit den Menschen zu genießen, die mir am Herzen liegen, statt mir Sorgen darüber zu machen, ob das Wasser zu kalt ist oder die Klamotten zu matschig werden.
 
Ich erinnere mich, wie ich krank auf dem Sofa im Wohnzimmer lag. Welche Farbe es hatte zu dieser Zeit kann ich garnicht mehr sagen. Die unwichtigen Dinge verblassen. Aber woran ich mich genau erinnere ist die Decke, die meine Mutter mir bis zum Hals hochgezogen hat, damit ich nicht friere. Wie sie mir dampfend heißen Tee gebracht hat mit dem Hinweis: „Vorsicht, der ist noch heiß. Der muss noch etwas auskühlen. Ich stell ihn dir hier hin.“ Und dass da Salzstangen standen auf dem Tisch. Ich erinnere mich an Fürsorge. An die sanfte Hand, die kühl über meine heiße Wange strich voller Liebe und einen Blick, bei dem ich wusste, dass ich mir keine Sorgen machen brauche. Der sagte: Es wird alles gut. Ich höre mich meine Mutter fragen: „Mama, gibst du mir bitte den Tee?“ Und sie nicht einen Moment zögert, obwohl ich selbst herangereicht hätte. Ich erinnere mich, dass ich einschlafen und gesund werden konnte bis Weihnachten, weil ich wusste, dass jemand sich um mich sorgt, über mich wacht und sich um mich kümmert, weil ich es gerade nicht kann. 
Heute wünsche ich mir das manchmal zurück. Nicht zu wissen, dass man „als Erwachsener stark sein muss.“ Einfach nach Hilfe fragen zu können, wenn ich nicht mehr kann. 
 
Gott wird Kind und zieht in mein Herz. Ich erkenne, dass Dinge nicht „einfach so sind.“ Er gibt mir Kraft, Dinge anzufangen, ohne zu wissen, wie sie ausgehen. Durch seine Liebe liegt meine Aufmerksamkeit bei den Menschen, die um mich sind und ich bin ganz im Moment. Die Sperren in meinem Kopf verschwinden, auch die Glaubenssätze, dass ich stark sein müsste. Plötzlich erwische ich mich dabei, wie ich Gott einfach um Hilfe bitte. Ich beginne zu verstehen, was Luther meinte, als er sagte: Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan und gleichzeitig ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan. Das Kind zieht bei mir ein, ruft: „Lieber Vater!“ und „Liebe Mutter!“  Gott wird Mensch, ich werde sein Kind. Vertrauen, Hoffnung und Liebe erfüllen mich und es wird Weihnachten. 
Frohe Weihnachten! 
Quelle: Tobias Patzwald
Weihnachtlich geschmückte Kirche
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